Ein Vorwort zu meinen ganzen folgenden Antworten: Balance halte ich persönlich für etwas doch relativ subjektives. Wenn man nach meiner Eingangsdefinition "Ein System ist balanciert, wenn effektives Spiel interessant ist." geht, dann kann man sich natürlich die Frage stellen "Interessant für wen?", und unterschiedliche Leute werden da unterschiedliche Antworten drauf geben, selbst wenn sie meiner Definition zustimmen würden. Alles was ich im folgenden über Balance sage kann daher nur meine persönliche Meinung sein.
Für mich ist also Balance in einem PnPRPG dann erreicht, wenn die Geschichte, die ich erzähle, durch die Mechanik unterstützt wird. Je weniger ich an der Mechanik basteln muss, umso besser ist die Balance. Zum Beispiel in 5e beginnen meine Abenteurer auf Stufe 3 wo das Kräfteverhältnis zwischen der Welt und beginnenden Abenteurern meiner Meinung nach gut passt.
Ich persönlich bin auch der Meinung, dass die Mechanik zur Geschichte passen sollte. Für mich ist das aber was anderes als "Balance", was man durch folgendes Beispiel verdeutlichen könnte: In legend of the five rings gibt es unterschiedliche Schulen für Magieanwender, die alle bestimmte Spezialfähigkeiten haben. Es gibt aber eine Schule, die *die* Schule für Magieanwender ist, berühmt dafür, dass ihre Leute die Besten von allen sind. Wenn du dir daher beim Charakterbau einen Magieanwender bauen willst, dann wirst du deutlich mächtiger sein, wenn du dich für diese Schule entscheidest, als für irgendeine andere Schule.
Passt es zur Geschichte, dass Leute von dieser Schule besser sind als alle anderen? Ja, definitiv. Dafür ist diese Schule ja berühmt, also macht es aus Ingame-Sicht Sinn, dass ihre Schüler besser sind. Ist es balanciert? Nein, weil wenn Leute effektiv spielen wollen, dann werden sie niemals Schüler aus irgendeiner anderen Schule spielen. Wenn alle SC-Magieanwender *nur* aus der besten Schule kommen, und die ganzen anderen Schulen mit ihren zwar einzigartigen aber weniger mächtigen Spezialähigkeiten einfach ignoriert werden, dann halte ich das nicht wirklich für interessant... Und wenn effektives Spiel nicht interessant ist, dann ist das laut meiner Definition nicht balanciert.
Wie man gute Balance erkennt, hab ich schon eingangs erwähnt, aber ich geh vielleicht auf meine Perspektive auf die technische Seite ein. Balance kann nur dann hergestellt werden, wenn die Geschichte und Erzählung das auch unterstützen. Wenn Orks unzerstörbare Super-Mutanten sind und ich kann sie als Spieler Scharenweise ausmerzen, na ja, da brauch ich nicht an den Werten herumschrauben, das wird sich nie balanciert anfühlen. Es ist vielleicht im Spielsystem ausgeglichen, aber das ist für mich keine Balance. Zumindest nicht im PnPRPG, im Wargaming schaut das natürlich anders aus.
Vermutung: Einer der Gründe, warum so viele Leute *gegen* Balance im P&P argumentieren (auch wenn das in diesem Thread jetzt noch niemand gemacht hat), ist genau deswegen: "Balance" wird als etwas gesehen, was die Stimmung der Welt kaputt macht, weil Dinge numerisch gleichwertig gemacht werden, die es vom Hintergrund her nicht sein sollten. Ich persönlich bin auch der Meinung, dass man den Hintergrund möglichst gut abbilden sollte, und bei NSCs sollte man sich da auch nicht von "Balance" abhalten lassen. Bei den Spielercharakteren bin ich aber der Meinung, dass sie bei gleicher Erfahrung auch tatsächlich numerisch gleichwertig sein sollten, wenn nötig auch auf Kosten der Hintergrund-Plausibilität.
Ich würde Balance in Rollenspielregeln so sehen, dass jeder mögliche Charakterbuild über den Gesamtverlauf einer typischen Kampagne, für die das Speilsystem ausgelegt wurde (oder eines Spielabends, wenn das System auf one-shots abzielt), ähnlich viel zum Ergebnis beitragen kann.
Mit so einer ähnlichen Definition habe ich auch lange Zeit gearbeitet, und ich bin immer noch der Meinung, dass das der *wichtigste* Teilbereich von Balance im P&P-Rollenspiel ist: Unterschiedliche Charakterbuilds sollten (auch wenn man auf Effektivität spielen will) jeweils signifikant etwas beitragen können. Meine Definition im Eingangspost ist ein bisschen anders: Es inkludiert immer noch die Implikation, dass verschiedene Charakterbuilds aus Effektivitäts-Sicht viable sein sollten, weil wenn alle immer nur den selben Build spielen, dann wäre das ja fad und damit uninteressant.
...Andererseits verlangt diese neue Definition aber auch nicht, dass *jeder* Build gleich viel beitragen können muss. Wenn man in einer sehr Kampf-lastigen Runde alle seine Punkte in Kunst, Philosophie und Kochen steckt, dann hat man zwar vielleicht einen sehr interessanten Charakter, aber es wird nicht erwartet, dass dieser Charakter das selbe zum Ergebnis beitragen kann wie ein Kämpfer, damit das System "balanciert" sein darf. Das System ist balanciert, wenn Leute, die auf Effektivität spielen wollen, eine Auswahl aus ausreichend vielen interessanten Builds vorfinden, die alle viable sind. Wenn auch der künstlerisch begabte Philosophen-Koch irgendwie viable ist in dem System, dann super, aber ich glaube es ist vom System-designer dann doch ein bisschen viel verlangt, das *vorauszusetzen* als Kriterium, damit das System als balanciert gelten darf. Weil die realistische Alternative ist, dass der Systemdesigner dann her geht und fixe getrennte Punkte-Budgets für "Kampf-Fähigkeiten" und "Nicht-Kampf-Fähigkeiten" vergibt, um "Balance" sicherzustellen, und ich persönlich bin dann halt irgendwann zu der Ansicht gekommen, dass das halt doch eine ziemliche Einschränkung ist für die Charakterkonzepte und Hintergründe, die in diesem System potentiell dargestellt werden können... Wobei ich mir an diesem Punkt selber noch nicht so ganz sicher bin, also ftzk.
Mit meiner Definition muss man sich auch nicht lange mit "Aber es hängt doch stark vom Abenteuer ab, wie effektiv diese ganzen Fähigkeiten sind?" herumschlagen. Solange die Fähigkeit von einem playing to win Spieler als nützlich genug zum Lernen erachtet wird, trägt sie zur Vielfalt der Charakterbuilds des Systems und damit zu dessen "Interessantheit" bei. Wie oft sie dann tatsächlich angewendet wird, hat dann nix mehr mit der Balance vom System zu tun, sondern mit dem SL der konkreten Runde. Es kann übrigens durchaus der Fall sein, dass sehr mächtige und nützliche Fähigkeiten niemals tatsächlich zum Einsatz kommen: Wenn man unsichtbares sehen kann (und das auch bekannt ist), dann werden sich Gegner wohl nicht die Mühe machen, Unsichtbarkeit gegen die Gruppe zu verwenden. Es könnte daher der Eindruck entstehen, dass "Unsichtbares sehen" eine nutzlose Fähigkeit ist, weil sie ja nie zum Einsatz kommt. Würde ich als playing to win Spieler diese Fähigkeit trotzdem lernen? Absolut. Nicht ohne Gegenmaßnahmen gegen unsichtbare Gegner kämpfen zu müssen ist *verdammt* viel wert. Das ist die Art von Fähigkeit, die man lernt, um sie *nicht* anwenden zu müssen. 
Es gibt noch einen weiteren Punkt, der für meine Definition relevant ist: Gehen wir mal davon aus, wir haben eine Gruppe bestehend aus einem Waldläufer, einem Alchemisten, einem Magier und einem Dieb. Diese Gruppe hat erkannt, dass sie so gut wie alle Kämpfe gewinnen oder umgehen kann, indem sie den Gegnern einfach vorher Abführmittel ins Essen mischen. Der Waldläufer sammelt die Zutaten, der Alchemist stellt daraus das Mittel her, der Magier castet Invisibility auf den Dieb, und der Dieb schleicht sich dann in's Lager der Gegner und mischt es ihnen ins Essen. Mit dieser Strategie hat die Gruppe konsistenten Erfolg bei all ihren Vorhaben, die normalerweise Kämpfe erfordern würden... Weil laut den den Regeln gibt's nicht viel, was die meisten Gegner dagegen tun können. Und jetzt stellen wir uns die Frage: Ist dieses System balanciert? Jeder Charakter in der Gruppe hat einen sehr unterschiedlichen Build, und trägt trotzdem signifikant zum Erfolg bei. Andererseits: Wenn man mit dieser Strategie garantiert alle Kämpfe gewinnen oder umgehen kann, dann ist es nicht mehr wirklich interessant, oder? Persönliche Meinung von mir: Die Abführmittel-Strategie ist zu ovepowered, und daher ist das System nicht balanciert, auch wenn viele verscheidene Charakterbuilds viable sind.