-> Was ist Balance überhaupt?
Ich würde Balance in Rollenspielregeln so sehen, dass jeder mögliche Charakterbuild über den Gesamtverlauf einer typischen Kampagne, für die das Speilsystem ausgelegt wurde (oder eines Spielabends, wenn das System auf one-shots abzielt), ähnlich viel zum Ergebnis beitragen kann.
Das Grundproblem in den meisten Kampagnen ist nämlich, dass sie zu vielfältig sind, als dass numerische Balance, wie sie etwa bei einem Dungeon-Crawler-Brettspiel machbar wäre, wirklich unabhändgig von einem "Referenzabenteuer" möglich ist.
Weil wie bewertet man, ohne Kontext, ein +3 Schwert im Vergleich zu einem gemaxten Diplomacy Wert im Vergleich zu einem "Move Earth" Spell im Vergleich zur angeborenen Fähigkeit, magische Strömungen wahrzunehmen?
Dazu muss man vorher die Anzahl vermeidbarer und unvermeidbarer Kämpfe, die möglichen sozialen Interaktionen und deren Auswrikungen, die Umgebung (für Move Earth) und die Wichtigkeit von magischer Analyse für die Handlung irgendwie festlegen, ansonsten ist auch nur eine grobe Bewertung dieser sehr unterschiedlichen Fähigkeiten einfach nicht möglich.
Das ist z.B. ein Grund warum D&D4, wie ich finde, mit Abstand die beste Spielbalance aller D&Ds hat: Weil die im Wesentlichen ein reines Dungeon-Crawler-Brettspiel gebaut haben, mit einem ausreichend knappen Set an Regeln und mechanischen Effekten, dass die zueinander rein mathematisch halbwegs balancierbar sind. Und Nicht-Kampf-Zeug hat in der Balance (und den Regeln) eine sehr geringe Rolle für ein Rollenspiel, weil es auch definitiv so vorgesehen ist, dass fast alles wichtige in einem Standard-Abenteuer durch taktischen Kampf entschieden wird. Und die paar Skills, die es darüber hinaus gibt, sind auch vorhersehbare Modifikatoren (einfach +5 Bonus), und gleichzeitig ausreichend wenig und hinreichend auf Standard-Abenteuer gemünzt, dass man ihre Auswirkung abschätzen kann. Ditto Nicht-Kampf-Zauber.
Dass es aus den gleichen Gründen kein gutes D&D und kein besonderes Rollenspiel im Allgemeinen ist, steht natürlich auf einem anderen Blatt.
-> Ist es wünschenswert, dass ein System gute Balance hat?
Ja.
Wenn alle Spieler, wie in meiner Definition, mit ihrem Charakter was sinnvolles und entscheidendes zum Abenteuer beitragen können, sind alle Spieler zufrieden (außer ohnehin problematischen Spotlight Hogs, oder teilweise einem "I just want to hang out with you guys"-Spieler). Und das ist am Spieltisch eines der wichtigsten Ziele.
Wenn ein Charakter für den Party-Erfolg nie relevant ist, wird der Spieler mit der Kampagne in den meisten Fällen bald frustriert sein, und das sollte man auf jeden Fall vermeiden.
-> Wenn ja: Wie erkennt man gute Balance?
In meiner Balancedefinition: Wenn alle Spieler im Spiel ihre "Hurra, ich habe was großes geleistet"-Momente haben, es bei allen Spielern Würfe gibt, wo alle am Tisch gespannt auf das Würfelergebnis harren und alle im Nachhinein Dinge erzählen wie "mein Charakter hat dieses richtig geile Dinge gemacht"
-> Inwiefern kann man im P&P überhaupt von Balance reden so wie in kompetitiven Spielen?
Siehe oben.
Andreas Melhorn unterscheidet in seinem (meiner Meinung nach sehr empfehlenswerten) Buch "Abenteuer gestalten" zwischen "Combat as Sport" und "Combat as War"
Ich sehe da in meiner Balance-Definition keinen allzu großen Unterschied: "Combat as War", was ich derzeit vor allem als SL bevorzugen würde, beeinflusst zwar, welche Kämpfe ausgefochten und welche vermieden werden (was dann eben wieder nicht-Kampf-Fähigkeiten und einfach guten Spieler-Ideen ihre Chance gibt, im Gesamtkontext des Abenteuers zu glänzen), aber die Balance von Kampffähigkeiten untereinander wird davon eigentlich wenig berührt.
Weil selbst wenn man weniger starke, immer verfügbare Manöver gegen starke, begrenzt verfügbare balanciert, hat das sowohl in "Combat as Sport" (wo man dann die Anzahl an Minion- und Boss-Kämpfen und die Begrenzung an Macht-Fähigkeiten-Rückgewinnungsmöglichkeiten eben entsprechend gestaltet, dass alle Fähigkeiten gebraucht werden) als auch im "Combat as War" (wo die Spieler Situationen generell vermeiden werden, wo sie ihre begrenzten Super-Fähigkeiten brauchen, aber wenn sie so eine Situation mal nicht vermeiden können, werden ihnen diese Fähigkeiten oft den Arsch retten) seine angemessenen Auswirkungen aufs Spielergebnis. "Combat as War" ist hier natürlich weniger planbar, aber eine seltenere Nützlichkeit der Super-Fähigkeiten wird da dann durch ein "Ohne das wären wir jetzt wirklich im A**** gewesen" ausgeglichen.
-> Ist es gut oder schlecht, wenn unterschiedliche Spieler sehr unterschiedlich effektive Charaktere haben, weil sie ihre EP unterschiedlich verteilt haben?
In der üblichen Kampagne, wie ich geschrieben habe, nein.
In einer explizit narrativen Kampagne kann das anders sein. Da kann man z.B. bewußt eine "Mentor-und-Schüler"-Beziehung haben, wo der Mentor-SC deutlich stärker ist als der Schüler-SC, weil man eher an der Beziehung und dem aus der Ungleichheit entstehenden Spannungsfeld interessiert ist als daran, wer mechanisch während dem Spiel die Erfolge einfährt.
Ebenso kann es in einer stark simulationistischen Kampagne weniger wichtig sein, weil es nun mal der Welt-Simulation dienlich ist, wenn der Ritter einfach mehr kann (Kampftraining, Vermögen, sozialer Einfluss) als der Bauer.
Da stehen dann aber andere Dinge im Vordergrund als das, was ich als Basis meiner Balance-Definition verwendet habe, wodurch die sowieso nicht mehr anwendbar wird. Und ich denke, die meisten Spielrunden werden Narrativismus und Simulationismus, abseits von extra darauf ausgelegten One-Shots, nicht in einer derart extremen Form betreiben. Die würden sich in "moderat" narrativistischen und/oder simulationistischen Runden dann immer noch erwarten, dass alle SCs halbwegs gleichmäßig ihre Glanzmomente bekommen; mangelnde mechanische Balancierbarkeit müsste hier dann wohl durch mehr SL-Railroading ausgeglichen werden, damit der Bauer zumindest hin und wieder seine Einsatzmöglichkeiten bekommt, die ihm der Ritter nicht einfach abnehmen und besser machen kann (etwa, indem Situationen eingebaut werden, in denen der Ritter durch seinen Ehrenkodex oder soziale Verpflichtungen behindert wird, oder wo wichtige NSCs ihm aufgrund seines Stands misstrauen würden).
-> Ist es gut oder schlecht, wenn manche Spieler overpowerte magische Schwerter kriegen und andere kriegen nix vergleichbares?
Kann beides sein.
Wenn ein Spieler mit seinem OP-Artefakt alle Spielsituationen alleine lösen kann, ist das natürlich schlecht.
Andererseits kann man als SL auch gezielt OP-Zeug vergeben, um die Einflussmöglichkeiten der Charaktere wieder auszugleichen. Besonders, wenn das Regelsystem beschränkt, wer was verwenden kann.
Wenn z.B. Äxte und Schwerter völlig getrennt gesteigert werden, und der Axt-Spezialist bisher ein deutlich besserer Kämpfer war als der Schwertkämpfer (eventuell wegen ausgewürfelter Charaktere oder besserem min-maxing), könnte das OP-Schwert das Verhältnis ausgleichen oder umdrehen, weil es für den Axt-Kämpfer relativ nutzlos ist, weil er damit durch geringen Skill trotz OP weniger trifft als mit seiner Axt. Und damit könnte dann der bereits langsam frustriert werdende Schwertkämpfer-Spieler wieder seine Glanzmomente bekommen. In diesem Fall würde ich den Spielern explizit sagen, warum ich das mache, damit dann hoffentlich nicht umgekehrt der Axtkämpfer allzu frustriert ist ("da mixmaxe ich wie verrückt und dann das...")
Außerdem kann man in levelbasierten Systemen darauf vertrauen, dass das magische Item, das jetzt OP ist, nach einer Weile wieder ein Standard-Item wird.
Man kann es auch wie das Cypher-System machen und ganz bewußt Gegenstände vergeben, die inheränte Charakterfähigkeiten deklassieren, diese Gegenstände dann aber mit begrenzter Nutzbarkeit ausstatten. Dann kann der Besitzer halt mal in einer brenzligen Situation die Gruppe damit retten (oder einfach nur einen furchtbar lustigen Gag produzieren), ohne dass das OP-Item auf die Kampagne langfristig nennenswerten Einfluss hat. Außerdem bekommen dort alle regelmäßig OP-Item-Ersatz und können Items nicht horten, so dass eben wieder jeder seine Glanzmomente bekommen kann und zum Einsatz dieser tollen Items, auch wenn man es später vielleicht noch brauchen könnte, animiert wird.
In C&C habe ich z.B. auch explizit Glückswürfe dazu, mächtigere (und zum Charakter passende) Items zu finden. Das ist bei mir Teil der Balance der Charisma-Ability. Ein Kämpfer, der viel Cha aber weniger, sagen wir, Dex hat, wird zwar seinem Kollegen anfangs unterlegen sein, dafür findet er vermutlich irgendwann geiles Zeug, mit dem er dann glänzen kann, zumindest für eine Zeit (und weil Cha auch beeinflusst, wieviel magische Gegenstände ein Charakter an sich binden kann, wird auch die Situation abgeschwächt: "Gib die neue geile Waffe, die du gefunden hast, doch dem anderen, bessern Kämpfer, bei dem bringt sie mehr").